4

 

Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte.

Erschrocken hob Claire den Kopf, ihre Stirn war gegen die kühle Fensterscheibe gesunken. Sie wusste nicht, wie lange sie so gedöst hatte - so lange, dass inzwischen die schwache rosafarbene Morgenröte über den Horizont gewandert war und eine feuchte Nebeldecke mitgebracht hatte, die den Wald und den Boden unter ihr bedeckte.

Oh Gott... Morgen.

Das Tageslicht wurde jede Minute heller.

Und keine Spur mehr von Andreas' Licht zu sehen.

Das Glas beschlug von Claires Atem, als sie aus dem Fenster auf die unbelebte Fläche von Gras, Asphalt und Fichten hinunterspähte. War er etwa gegangen, während sie geschlafen hatte? War er jetzt fort?

War er tot?

Nachdem sie letzte Nacht gesehen hatte, wozu er fähig war, war sie nicht sicher, warum sich bei dem Gedanken ein Klumpen der Angst in ihrer Brust zusammenballte. Aber bevor Claire sich sagen konnte, dass sie verdammt dankbar dafür sein sollte, die Nacht überlebt zu haben, war sie schon auf der Treppe im Herzen des Herrenhauses und stieg rasch hinunter. Sie entriegelte die Eingangstür und öffnete sie, zog dann einen der Mäntel der Wachen von einem Kleiderständer im Foyer und schlang ihn sich um die Schultern, um sich gegen die feuchte Kälte zu schützen. Sie trat nach draußen.

Das Erste, was sie bemerkte, war die merkwürdige Stille. Sie hörte überhaupt kein Geräusch, außer dem zeitweiligen Prasseln des leichten Regens. Es war so ruhig und friedlich, fast war sie versucht zu denken, dass letzte Nacht nur ein schrecklicher Traum gewesen war. Doch dann zog der beißende Geruch von kaltem Rauch über das Gelände.

Es war alles real gewesen, schlimmer noch als der schlimmste Albtraum. In ihrer Nase brannte die beißende Erinnerung an die Gewalt, die sie mit angesehen hatte.

Langsam ging Claire über das Gras, machte einen weiten Bogen um die lange Auffahrt, um dem Gemetzel an ihrer Eskorte aus dem Weg zu gehen.

Sie wollte nicht sehen, was das Feuer den Stammesvampiren angetan hatte, die letzte Nacht getötet worden waren, genauso wenig wollte sie wissen, wie schnell die aufgehende Sonne ihre Überreste verzehren würde. Es war dieser Gedanke - was anhaltende ultraviolette Strahlung der hypersensitiven Stammeshaut antat —, der Claire tiefer in den Wald trieb.

Zu der Stelle, wo Andreas zuletzt gewesen war.

Man sah kaum, wo der Nebel endete und in die Rauchschwaden von verbrannten Bäumen und versengtem Boden überging. Alles schien wie in schweren grauen Nebel getaucht, ihre Haut wurde mit jedem Schritt klammer. Claire sah zu, wie ihre Füße sich durch den tiefliegenden Nebel bewegten, einen geschwärzten Pfad entlang, der sie tiefer in den Wald führte. Die Stille streckte gespenstische Finger nach ihr aus, versengtes Gestrüpp zerrte im Vorbeigehen an ihr wie skelettierte Totenfinger. Der Gestank von kaltem Rauch und verbrannter Vegetation verstärkte sich hier, brannte ihr in der Kehle.

Und dann war da noch ein anderer, stechender Geruch - nicht der von kaltem Rauch oder der beißende Ozongeruch, den Andreas' Körper letzte Nacht ausgestrahlt hatte. Es lag etwas anderes in der Luft. Irgendwo stieg frische, lebendige Hitze auf, und der süßliche, widerliche Geruch von brennendem Fleisch.

Oh nein.

Sie machte ein paar ängstliche Schritte, stolperte ein wenig, als der Boden abrupt etwa dreißig Zentimeter steil abfiel. Das Loch, wo der alte Baum gewesen war, registrierte sie entfernt. Das Loch, das ein Krater geworden war, als Andreas in seiner Wut ihr Versteck gesprengt hatte.

An dieser Stelle im Wald war er letzte Nacht geblieben. Er war ihr nicht weiter gefolgt. Und er war nicht gegangen, bevor die Sonne aufging.

Er war immer noch da.

Vorsichtig näherte Claire sich der riesigen, dunklen Gestalt, die sich vor ihr auf dem von Nebelschwaden bedeckten Boden zusammenkauerte. Er bewegte sich nicht, atmete kaum. Das Feuer, das in ihm und um ihn gebrannt hatte, war nun fort. Seine Kleider waren versengt und zerrissen. Seine Haut zischte schon unter den dunstigen Sonnenstrahlen, und überall dort, wo sie ungeschützt war, bildeten sich Brandblasen.

Wenn sie ihn so sah, wirkte er gar nicht gefährlich.

Er war nicht das Monster, das sie draußen im Dunklen getroffen hatte; jetzt war er einfach nur ein Mann. Ein Mann, dessen vampirische Seite ihn tödlich anfällig machte.

Wenn sie ihn so sah, war es gar nicht schwer, sich zu erinnern, dass sie ihn einmal geliebt hatte wie keinen anderen. Es überraschte sie, wie schnell sich jetzt auch der Schmerz über ihre abrupte Trennung zurückmeldete.

Das alles war lang vorbei, aber egal, was sie damals oder jetzt für ihn empfand - sie konnte ihn nicht leiden lassen. Sie würde ihn nicht in der Sonne liegen lassen, egal, was er getan hatte oder wozu er geworden war in der langen Zeit, seit sie zusammen gewesen waren.

„Andre“, flüsterte Claire, und ihre Stimme brach, als sie näher kam und erkannte, wie schlimm seine Verbrennungen waren. „Oh Gott, Andreas... kannst du mich hören?“

Er stöhnte kaum hörbar, aber feindselig. Als sie neben ihm in die Knie ging und die Hand ausstreckte, um ihn an der Schulter zu berühren, bleckte er die Fänge und fauchte wie ein Tier in der Falle.

„Du musst aufstehen.“ Claire zog sich den übergroßen Trenchcoat von den Schultern und hielt ihn hoch, damit er ihn sehen konnte. „Ich werde dich damit zudecken, damit du vor der Sonne geschützt bist. Aber du kannst nicht hier draußen bleiben, sonst stirbst du. Du musst aufstehen und mit mir kommen.

Machst du das?“

Er antwortete nicht, aber er griff sie auch nicht an, als sie vorsichtig den Mantel über seiner ungeschützten Haut ausbreitete.

„Kannst du aufstehen?“

Finster blickte er zu ihr auf, die Lippen immer noch verzerrt, die Zähne gebleckt. Irgendetwas war gar nicht in Ordnung mit ihm, auch wenn er jetzt nicht mehr in Flammen stand. Seine Pupillen waren immer noch elliptisch, hatten noch nicht wieder ihre normale Form angenommen, und seine Iriskreise waren immer noch bernsteingelb anstelle des dunklen Haselnussbrauns, das sie kannte.

Alle Stammesvampire verwandelten sich auf diese Art, wenn sie Hunger hatten oder in Zeiten von gesteigerter emotionaler Erregung, aber das hier schien irgendwie anders. Schlimmer. Claire konnte nicht viel von seinen Dermaglyphen sehen - den kunstvollen Hautmustern, die jeder Stammesvampir besaß-, aber die, die sie auf seinen Armen und durch die zerrissenen Stellen seiner Kleidung erkennen konnte, sahen nicht gut aus. Ihre Farben pulsierten zu hektisch, die wechselnden Farbschattierungen spielten verrückt, wie nach einem inneren Kurzschluss.

„Steh auf', sagte sie, dieses Mal entschlossener. „Du musst mit mir mitkommen, Andreas.“

Zu ihrer Überraschung gehorchte er ihr. Langsam und schwerfällig erhob er sich vom Boden. Claire hielt ihm ihre Hand hin, als ihm zuerst die Knie nachgaben, aber schließlich stand er auf den Füßen.

Er überragte sie selbst so noch, mit gebeugtem Rücken und tief auf die Brust gesenktem Kopf. Claire zog ihm den Kragen des Trenchcoats über Kopf und Nacken, um ihn vor noch mehr schädlicher UV-Strahlung zu schützen.

„Hier lang“, sagte sie zu ihm. „Halte dich ruhig an mir fest, wenn es nicht geht.“

Sie bemerkte, dass er nicht einmal den Versuch machte, sie beim Wort zu nehmen. Mit einem gequälten Grunzen setzte er sich neben ihr in Bewegung. Sie kamen im Schneckentempo voran, trotteten schweigend aus dem Wald und über den Rasen zurück zum Herrenhaus. Als sie endlich beim Eingang ankamen, zog Andreas die Füße nach, als wären sie aus Blei.

Claire versuchte, ihm die wenigen Stufen zur Tür hinauf zuhelfen, aber er stieß sie zurück, als schmerzte ihre Berührung ihn noch mehr als die Sonnenstrahlen, die durch den sich auflösenden Dunst auf ihn. niederbrannten. Also ging sie voran und öffnete die Tür, hielt sie für ihn auf, als er sich die Stufen hinaufschleppte. Im Foyer wäre er fast zusammengebrochen. Er fiel auf die Knie, dann kam er stolpernd und stöhnend wieder hoch.

„Verdammt“, knurrte er, sein Atem stieß zwischen seinen ausgedörrten Lippen hervor. Er sah zu ihr auf, sein Gesicht schweißüberströmt und wund von den durch das Tageslicht verursachten Verbrennungen.

„Wohin jetzt?“

Claire zeigte ans andere Ende des Foyers. „Unten im Keller ist es für dich wohl am angenehmsten. Als das Haus gebaut wurde, hat Wilhelm sich da unten einen Privatraum eingerichtet, ihn aber nie benutzt...“

Er setzte sich in Bewegung, noch bevor sie ausgeredet hatte. Claire folgte ihm, hielt sich dicht in seiner Nähe, falls er auf der alten Steintreppe, die ins Untergeschoss führte, Schwierigkeiten bekam. Sie hörte sein erleichtertes Aufseufzen, als die kühle Dunkelheit ihn umgab. Er sah auch ohne künstliches Licht, aber Claires Augen brauchten länger, um sich an den stockfinsteren Keller zu gewöhnen. Sie knipste das Licht an und sah zu, wie Andreas von der untersten Treppenstufe stolperte und auf dem kalten Steinboden zusammensank.

Er ging nicht zu Wilhelms luxuriöser Privatsuite, sondern zog sich nur den Trenchcoat herunter und warf ihn beiseite, dann kippte er vornüber und ließ sich der Länge nach auf den Boden fallen. Claire sagte nichts, sie setzte sich auf die dritte Treppenstufe von unten und beobachtete ihn eine Weile schweigend, unsicher, was sie über ihn denken sollte.

„Warum hast du das gemacht?“ Seine Stimme kam rau und schwach aus den Schatten, aber sein Blick war immer noch wild und von geisterhaftem bernsteinfarbenem Licht erfüllt. „Warum hast du mir geholfen?“

Claire fiel es schwer, diesem heißen, sengenden Blick standzuhalten.

„Weil du Hilfe brauchtest.“

Er schnaubte, ein heiseres, spöttisches Geräusch.

„Dumm bist du nie gewesen, Claire. Kein guter Zeitpunkt, jetzt damit anzufangen.“

Der verbale Hieb tat weh, aber sie zuckte nur die Schultern. „Und du warst nie einer, der skrupellos innerhalb weniger Stunden Dutzende von Leuten umbringt.“

Er blinzelte, verdeckte die bernsteinfarbenen Iriskreise lange unter den Lidern. Wusste er überhaupt, was er letzte Nacht getan hatte? Hatte er es überhaupt registriert, als er in jenem Zustand war?

Er stieß einen leisen Fluch aus, dann wandte er sein Gesicht ab.

„Andre“, murmelte Claire leise. „Was immer dein Problem ist, ich bin sicher, dass jemand dir helfen kann. Aber jetzt denk nicht mehr dran. Alles, was du jetzt tun musst, ist, dich erholen, damit deine Verbrennungen heilen. Hier bist du sicher.“

„Niemand ist sicher“, murmelte er leise. Er drehte sich wieder zu ihr um, nagelte sie mit den Zwillingslasern seiner transformierten Augen fest.

„Und du schon gar nicht, Claire.“

Sie starrte ihn lange an, unsicher, was sie antworten sollte. Sie konnte nicht so tun, als hätte sie keine Angst. Auch geschwächt vom UV-Licht war er immer noch äußerst gefährlich. Immer noch ein tödliches Raubtier und mit einer schrecklichen Kraft bewaffnet, von der sie nicht gewusst hatte, dass er sie besaß.

Wie hatte sie nur denken können, dass sie ihn gut genug kennengelernt hatte in den vier Monaten, in denen sie unzertrennlich gewesen waren. Die Seite von ihm, die sie letzte Nacht gesehen hatte, war ihr damals entgangen. Aber damals hatte sie auch geglaubt, dass er sie liebte, und dann war er aus heiterem Himmel, ohne ein Wort der Erklärung, einfach aus ihrem Leben verschwunden.

Nun war er zurück - endlich, nach drei Jahrzehnten, sah sie ihn wieder - , wenn auch unter ganz anderen Umständen, als sie sich vorgestellt hatte.

Nun wusste sie nicht mehr, wer... oder was er war.

„Ruh dich etwas aus“, schaffte sie schließlich zu sagen.

Claire stand auf und begann die Kellertreppe hochzusteigen. Dabei war sie sich nur zu deutlich bewusst, dass Andreas' Augen ihr die ganze Zeit folgten. Sie drückte auf den Lichtschalter und tauchte den Raum wieder in Dunkelheit. Dann schloss sie die Kellertür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihre Hände zitterten, ihr Herz schlug wild gegen ihre Rippen.

Lieber Gott. Sie hoffte, dass sie eben nicht einen schrecklichen Fehler gemacht hatte.

Jetzt gab es nur eines. Sie musste Wilhelm finden, und zwar schnell.

Wilhelm Roth, der am Steuer eines Jaguar XKR Coupe mit 190 Sachen über eine leere Autobahn raste und sich dabei einen blasen ließ, bemerkte plötzlich, dass seine Stammesgefährtin in seinen Traum eingebrochen war. Sie materialisierte sich auf dem Mittelstreifen und blieb etwa einen halben Kilometer vor ihm am Rand der mondhellen Straße stehen.

Eine Sekunde lang ließ Roth seinen Fuß schwer auf dem Gaspedal liegen und dachte daran, einfach an ihr vorbeizurasen, als wäre sie gar nicht da - das sollte sie daran erinnern, dass er ihr spezielles Talent verabscheute und ihr vor langer Zeit verboten hatte, es bei ihm anzuwenden. Aber als der Jaguar die Überholspur entlangraste und das Licht seiner Scheinwerfer Claires Gesicht erfasste, erkannte er, dass sie zutiefst beunruhigt war. Sichtlich angeschlagen. Völlig untypisch für diese sonst so ruhige, kühle und gefasste Frau.

Sie hob die Hand, um ihre Augen vom blendenden Licht der Autoscheinwerfer abzuschirmen, und Roth nutzte die Gelegenheit, seine Traumgespielin schnell verschwinden zu lassen. Die nackte Blondine, die er aus dem billigen Pornofilm heraufbeschworen hatte, über dem er eingedöst war, löste sich auf einen Gedanken hin in Luft auf; die gewaltige Erektion, die aus dem offenen Schlitz seiner Armanihose ragte, war schwerer zum Verschwinden zu bringen. Nicht, dass Claire ihn darüber zur Rede stellen würde, wenn sie es bemerkte. Er hatte sie schon vor Jahren in ihre Schranken verwiesen, und schließlich konnte man ihn ja auch nicht dafür verantwortlich machen, was sein Geist trieb, wenn er schlief.

Zumindest war das seine Begründung gewesen, als er ihr verboten hatte, auf ihren Traumspaziergängen zu ihm zu kommen. Das und die Tatsache, dass es ihn grundsätzlich anpisste, wenn seine Privatsphäre verletzt wurde.

Verärgert steckte Roth seinen Schwanz in die Hose zurück und brachte den Wagen direkt vor seiner nervösen Stammesgefährtin zum Stehen. Sie wartete nicht ab, dass er sie ansprach, entschuldigte sich auch nicht für die Störung.

„Wilhelm, etwas Schreckliches ist geschehen.“ Sie packte den Rand der Fahrertür, ihre dunklen Augen glänzten vor Sorge. „Das Landhaus wurde angegriffen.“

Roth spürte, wie sein Kiefer sich anspannte, weniger vor Überraschung als vor Wut. „Es hat einen Angriff gegeben? Wann?“

„Letzte Nacht. Vor ein paar Stunden.“

Und er hörte erst jetzt davon? Von ihr, nicht von seinen Wachen?

Roth machte ein finsteres Gesicht. „Erzähl mir, was passiert ist.“

„Es war schrecklich“, sagte sie und schloss in schmerzlicher Erinnerung die Augen. „Feuer überall...

Explosionen im Wald, beim Haus und auf der Straße.

So viel Rauch und Asche. Wir haben versucht zu entkommen, aber es war schon zu spät.“

Sein Ärger kochte hoch. „Wo bist du jetzt?“

„Zu Hause... nun, bei mir zu Hause. Ich bin immer noch im Landhaus.“

„In Ordnung.“ Roth nickte vage. „Was ist mit den Männern von der Sicherheitseinheit? Warum lassen sie dich mir das alles erzählen, wo doch sie diejenigen sind, die mir Rechenschaft schulden?“

„Weil sie tot sind, Wilhelm.“ Ihre Stimme versagte, wurde zu einem Flüstern. „Alle anderen, die heute Nacht hier waren, sind tot.“

Roth verkniff sich einen deftigen Fluch. „Nun gut.

Bleib wo du bist. Ich kontaktiere den Dunklen Hafen Hamburg und arrangiere, dass dich jemand abholt und in die Stadt bringt.“

Claire schüttelte den Kopf, bevor er eine Chance hatte, den Satz zu beenden.

„Wilhelm... hast du es nicht gehört? Der Dunkle Hafen Hamburg. Es gibt ihn nicht mehr.“

„Was?“

„Der Dunkle Hafen wurde zuerst angegriffen. Es ist nichts übrig. Keine Überlebenden außer dem einen Agenten, der den Flammen entkommen ist. Er hat uns gewarnt, dass wir auch in Gefahr waren.“

Roth verarbeitete diese Neuigkeiten in grimmigem Schweigen. Er hatte nicht viele Blutsverwandten - keine eigenen Söhne, die ihn aus seiner Machtposition vertreiben konnten, keine Brüder jedweder Generation, denen es gelungen war, so lange zu leben wie er. Die Vampirgemeinde im Dunklen Hafen Hamburg, der er vorstand, bestand nur aus einigen Neffen, die nie viel getaugt hatten, diversem Haushaltspersonal plus einer kleinen Garnison von Sicherheitspersonal, das er sich von der Agentur ausgeliehen hatte.

Um ehrlich zu sein, kannte er die wenigsten von ihnen persönlich, und er hatte weiß Gott Wichtigeres zu tun, als Zeit damit zu verschwenden, ihren Verlust zu betrauern.

„Es tut mir so leid, Wilhelm“, sagte Claire jetzt, doch er brachte sie mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen. Er hätte wissen sollen, dass so etwas passieren würde. Er hatte es gewusst, um ehrlich zu sein. Schon von dem Augenblick an, als man ihn vor einigen Wochen von dem ersten Mord an einem Agenten aus dem Berliner Büro informiert hatte. Der Agent, der unter seinem direkten Befehl verdeckte, oftmals inoffizielle Operationen durchführte, war in einem brutalen Nahkampf getötet worden. Als der zweite grausame Mord innerhalb seiner privaten Truppe geschah, dann der dritte und vierte, stand außer Frage, dass jemand blutige Rache nahm.

Doch an dieser Theorie war etwas faul. Der Einzige, der dafür infrage kam, war tot. Zumindest laut dem Bericht der Agentur. Damals hatte Roth weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit gesehen, diese Information anzuzweifeln; wichtigere Angelegenheiten hatten ihn bereits nach Montreal gerufen, und die hatten immer noch Priorität. Doch dieser Angriff auf seine persönlichen Vermögenswerte konnte nicht unerwidert bleiben.

„Ich kümmere mich darum“, sagte er zu Claire.

„Und du mach dir keine Sorgen. Einige Leute schulden mir noch einen Gefallen, sie werden dich vorübergehend an einem sicheren Ort in der Region unterbringen, bis ich zurückkommen kann.“

„Wo bist du genau, Wilhelm? Eine deiner Wachen sagte mir, dass du gar nicht in Deutschland bist.“ Sie sah sich in seiner Traumlandschaft um, ihr Blick registrierte die steilen, zerklüfteten Granitfelsen auf beiden Seiten des ländlichen Highways, die sein Unterbewusstes heraufbeschworen hatte. „Bist du in Neuengland?“

Zu clever, seine Stammesgefährtin. Sie war in der Gegend geboren. Und sie war neugieriger, als gut für sie war. Roth bestätigte ihre Vermutung weder, noch bestritt er sie. „Bleib, wo du bist, Claire. Dir wird nichts passieren.“

„Wilhelm“, sagte sie langsam. „Interessiert dich gar nicht, wer uns letzte Nacht angegriffen hat? Man sollte doch meinen, dass du wissen willst, wer dafür verantwortlich ist... und warum.“

Roth starrte sie an.

„Andreas Reichen“, sagte sie und sah ihn ganz genau an, damit ihr seine Reaktion nicht entging.

Er gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, nicht einmal durch ein Zwinkern oder einen beschleunigten Puls. Nach einem Augenblick runzelte er die Stirn, täuschte Verwirrung vor. „Du redest von einem Geist, Claire. Andreas Reichen ist letzten Sommer mit dem Rest seiner Sippe umgekommen, als sein Dunkler Hafen niederbrannte.“

Eigentlich hätte der arrogante Scheißkerl schon lange vorher tot sein sollen, dachte Roth mit heimlicher Enttäuschung.

Claire schüttelte den Kopf. „Er lebt. Er ist... er hat sich verändert, Wilhelm. Er hat eine schreckliche Wut in sich - eine Kraft, die fast über meinen Verstand geht. Die Feuer und Explosionen hier und in Hamburg waren sein Werk. Sie kamen aus ihm heraus, aus seinem Körper. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“

Roth hörte zu, ungläubig und beunruhigt.

„Wilhelm, er sagt, er will dich töten.“

Er stieß ein spöttisches Schnauben aus. „Der Bastard wird nie nahe genug an mich herankommen, um das versuchen zu können.“

„Er ist hier, Wilhelm.“ Claires Blick war flehend. „Er ist hier bei mir im Haus, liegt ohnmächtig im Keller.

Ich weiß nicht, was ich tun soll.“

Roths wütender Fluch wurde von einem elektronischen Gedudel unterbrochen, das von außen in seinen Traum eindrang. Seine Umgebung begann zu verschwimmen, sich zu verzerren. Der dunkle Asphaltstreifen vor ihm und der perfekte Sternenhimmel über ihm erzitterten, die Gestalt Claires begann unter den Schallwellen, die ihn aus dem Schlaf weckten, zu verblassen.

„Mein Handy klingelt“, sagte er. Er war sowieso mit ihr fertig. Noch während er redete, löste sich der Jaguar, in dem er gesessen hatte, in Luft auf, und er fand sich neben ihr auf dem mondhellen Asphaltstreifen wieder. „Ich muss jetzt rangehen...“

Claires hauchdünne, verblassende Traumgestalt streckte die Hand nach ihm aus. „Was ist mit Andreas?“

Er presste seine Backenzähne zusammen angesichts der Vertrautheit, die sie offenbar immer noch für den anderen Mann empfand, selbst nach jahrzehntelanger Trennung. „Sorg dafür, dass der Mistkerl im Haus bleibt. Ich werde die nötigen Vorkehrungen treffen.“

„Du willst, dass ich hier bei ihm bleibe?“ Sie starrte ihn unsicher an. „Für wie lange?“

„So lange, wie es dauert. Bei Sonnenuntergang schicke ich eine weitere Einheit der Agentur, um ihn mitzunehmen.“

„Die Agentur wird ihn festnehmen, meinst du? Du wirst doch nicht zulassen, dass deine Männer ihm etwas tun?“

Ihre offensichtliche Besorgnis verärgerte ihn gründlich. „Meine Leute sind Profis, Claire. Sie wissen, wie sie so eine Situation handhaben müssen.

Zerbrich dir nicht den Kopfüber die Einzelheiten.“

Wieder ertönte das laute Klingelgeräusch seines Telefons und zog ihn weiter von ihr fort, zurück ins Bewusstsein.

„Und was ist mit mir, Wilhelm?“, murmelte Claire.

„Wie soll ich Andreas hier behalten, bis deine Männer da sind?“

„Tu, was immer du musst“, erwiderte Roth ausdruckslos. „Schließlich kennst du ihn besser als die meisten. Auch intim, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht. Dir wird schon etwas einfallen, um ihn festzuhalten.“

Er wartete die Antwort nicht ab. Wieder klingelte das Telefon, und Roth schlug die Augen auf und kappte damit seine schwache Verbindung zu Claire.

Er griff nach dem Handy auf dem Nachttisch. „Ja?“

„Herr Direktor“, sagte ein nervöser Stammesvampir am anderen Ende. „Hier Agent Krieger vom Berliner Büro. Letzte Nacht wurde jemand ermordet - Agent Waldemars Leiche wurde soeben in seiner Privatwohnung aufgefunden. Mit gebrochenem Genick. Und... das ist noch nicht alles, Herr Direktor.

Es gab auch einen Vorfall in Ihrem Dunklen Hafen in Hamburg.“

Roth schnaubte voller Sarkasmus. „Was Sie nicht sagen.“

„Bitte, Herr Direktor?“

„Stellen Sie eine bewaffnete Einsatztruppe zusammen und schicken Sie sie zu meinem Landhaus, sobald die Sonne untergeht. Die Einheit vor Ort wurde angegriffen und eliminiert. Meine Stammesgefährtin ist dort, ohne bewaffneten Schutz.

Sie ist allein, und sie hält Andreas Reichen für euch fest.“

„Reichen?“, fragte der Agent. „Ich verstehe nicht, Herr Direktor. Wurde der nicht vor einiger Zeit bei diesem seltsamen Unfall in seinem Dunklen Hafen getötet?“

Roths Finger spannten sich fester um das schmale Gehäuse seines Handys. „Wie es aussieht, ist der Mistkerl noch quicklebendig... noch. Weisen Sie das Team an: Schießbefehl bei Sichtung. Knallen Sie ihn ab, Agent.“

„Jawohl, Herr Direktor.“

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